aut idem als Qualitätskiller – Das Kreuz mit dem Kreuz
Krankenkassen lieben sie, die meisten Apotheker, Ärzte und Patienten, die ich kenne, würden sie gerne zum Teufel jagen: die irrsinnigen Rabattverträge, die uns die Regierenden in Berlin vor rund neun Jahren mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz eingebrockt haben.
Früher musste eine ärztliche Verschreibung zwingend namentlich ausgeführt werden. Dies führte vor allem im Notdienst oder am späten Nachmittag zu Problemen, wenn ein dringend benötigtes Medikament nicht vorrätig und am gleichen Tag nicht mehr zu besorgen war. Damit der Apotheker einen Patienten dennoch akut versorgen konnte, hatte der Arzt die Möglichkeit, durch setzen des Kreuzes im aut idem-Feld den Austausch durch ein gleichwertiges Präparat einer anderen Firma zu erlauben. Die Änderung der aut idem-Regelung im Jahre 2004, kehrte dieses Verfahren um. Verordnete der Arzt ohne Kreuz, durfte der Apotheker jetzt das verordnete oder eines der drei preisgünstigsten, gleichwertigen Arzneimittel abgeben.
Mit Einführung der Rabattverträge, wurde diese Regelung erneut verändert. Heute zählt nicht mehr der Listenpreis eines Arzneimittels, beliefert werden darf bei rabattierten Arzneimitteln nur noch mit Präparaten der Hersteller, die den Zuschlag einer jeweiligen Krankenkasse bei der Ausschreibung erhalten haben.
Wie hoch der Preisvorteil für die Kassen bei dem jeweiligen Medikament ist, das wissen übrigens nur sie selbst und die Hersteller. Dieser Markt ist völlig intransparent. So kommt es immer wieder mal zu der abstrusen Situation, dass ein nach Liste eher im oberen Preissegment angesiedeltes Arzneimittel trotzdem Rabattartikel ist.
Was mich richtig ärgert und täglich an die Grenzen meines Berufsethos führt ist jedoch, dass angesichts der Rabattverträge auf politischer Ebene dauernd von einer qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung in diesem Lande die Rede ist. Für mich sind Rabattverträge regelrechte Qualitätskiller und gehören endlich abgeschafft. Denn im Alltag sorgen sie in den Apotheken und bei Patienten für zahlreiche Einschränkungen und Probleme:
- Die Belieferung eines Rezeptes dauert bald dreimal so lange wie früher. Ging man damals mit der Verschreibung direkt an die Schublade, holte was da ist und bestellte dann einfach den Rest, fängt man heute mit der Rezeptbearbeitung an, indem man aufwändig die verordneten Mittel in den Computer tippt, um erst einmal zu sehen, welcher Vertrag gerade gilt und was ggf. anstelle des verordneten Präparates geliefert werden muss. Bei der Vielzahl von Kassen und Verträgen, ist eine passende Bevorratung für uns immer schwerer umzusetzen. Jeden Tag verlassen deshalb zahlreiche Kassenpatienten meine Apotheke nicht, ohne dass etwas bestellt werden muss. Das ist nervig, zeitaufreibend und ärgerlich für die Patienten und die Apotheke. Das verschwendet unnötig Arbeitszeit von hochqualifizierten Kräften, die weitaus Besseres und Sinnvolleres als solch eine stupide Tätigkeit in der gleichen Zeit leisten könnten.
- Patienten sind verunsichert und irritiert, wenn sie nicht mehr ihr gewohntes Arzneimittel bekommen, weil ihre Kasse wieder einmal neue Verträge abgeschlossen hat und jetzt ein anderer Hersteller Vertragspartner ist. Ihnen fehlt teilweise das Vertrauen in die neuen Mittel. Einnahmeverweigerungen, oder Verwechslungsgefahren aufgrund des anderen Aussehens der neuen Arzneimittel, sind an der Tagesordnung.
- Es kann auch vorkommen, dass ein Vertragsmittel zum Beispiel keine teilbare oder lösliche Tablette ist, wie ursprünglich vom Arzt vorgesehen. Dass die Verträge solche galenischen Unterschiede nicht berücksichtigen, ist aus qualitativen Gesichtspunkten für mich ein Desaster. Es geht nur ums Geld. Hauptsache ein Rabattarzneimittel. Ob der Austausch Sinn macht oder nicht. Völlig irrwitzig finde ich zum Beispiel den Vertrag einer Kasse, die bei der Verordnung eines abschwellenden Nasensprays für Kinder eines bestimmten Herstellers, den Austausch gegen die Nasentropfen des gleichen Herstellers verlangt. Dabei haben beide Artikel sogar den gleichen Listenpreis.
- Rabattarzneimittel sind überdurchschnittlich häufig von Lieferproblemen betroffen. Man kann nur mutmaßen. Eine mögliche Ursache ist, dass Hersteller nach dem Gewinn einer Ausschreibung die erforderlichen Mengen, die sie jetzt liefern müssen, schlicht falsch kalkuliert haben. Eine andere, dass es zu Problemen in der Lieferkette oder bei Lohnherstellern gekommen ist. Zahlreiche Generika kommen nicht aus Deutschland oder Europa, sondern werden in Asien hergestellt. Im vergangenen Jahr verhängte die deutsche Arzneimittelüberwachungsbehörde zum Beispiel einen Vertriebsstopp über mehrere solcher generischer Medikamente. Es kam nämlich heraus, dass in Indien Arzneimitteldaten nicht in Ordnung waren, die die Grundlage für die Zulassung der Präparate darstellten. Für mich ein klares Indiz dafür, welche Folgen der immense Preisdruck für die Arzneimittelqualität haben kann.
- Liefert eine Apotheke ohne triftigen Grund nicht das vorgesehene Vertragsarzneimittel, nehmen Krankenkassen das zum Anlass, eine Erstattung gänzlich zu verweigern. Nicht nur, dass der Verdienst Weg ist, entsteht hierdurch ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden. Der Apotheker hat eine Ware, die er eingekauft und bezahlt hat, sachgerecht an einen Patienten abgegeben, der somit eine Leistung empfangen hat. Doch weil das Produkt nicht von der Firma ist, die der Kasse Rabatt gewährt hätte, wird gar nichts gezahlt. Nichteinmal der Einkaufspreis.
Selbst vor kleinen, lächerlichen Formfehlern machen Kassen keinen Halt mehr. Das gleicht Enteignung und Wegelagerei. Und nicht nur bei uns Apothekern wird so retaxiert. Auch bei anderen Heilberuflern nutzen Krankenkassen schon kleinste, belanglose Formfehler, um Leistungen komplett zu verweigern. Die Suche nach solchen Fehlern ist wohl so lukrativ geworden, dass inzwischen Finanzinvestoren Interesse an Retaxdienstleistern haben. Diese Vorgehensweise der Krankenkassen hat nichts mehr mit partnerschaftlicher Zusammenarbeit zu tun. Sie gefährdet in höchstem Maße die finanzielle Substanz von Leistungserbringern, die das nur mit Kosteneinsparungen abfangen können. Im Zweifel zu Lasten der Qualität. Es wird Zeit, dass die Politik endlich gesetzgeberisch handelt und Nullretaxationen verbietet sowie den Spielraum bei der nachträglichen Heilung von Formfehlern erweitert. - Ein Punkt, der aus meiner Sicht nach wie vor viel zu wenig diskutiert wird, ist die Bioäquivalenz von generischen Arzneimitteln. Damit Präparate untereinander austauschbar sind wird verlangt, dass sie vergleichbare Blutspiegel wie ein Referenzarzneimittel erzielen. Das nennt man dann bioäquivalent. Jedoch wird aktuell ein Spielraum von -20 bis +25{5cff393ac6e9d9bcd516bee1cb40dba1a54fcac67484b3672b7852825761de21} Abweichung toleriert. Da Generika in der Regel mangels gesetzlicher Regelung nicht gegeneinander verglichen werden, kann es im Extremfall theoretisch dazu kommen, dass zwischen zwei generischen Präparaten eine Differenz von 45{5cff393ac6e9d9bcd516bee1cb40dba1a54fcac67484b3672b7852825761de21} in den erreichten Plasmablutspiegeln besteht. Immer wieder berichten uns Patienten darüber, dass ihr neues Medikament nicht so gut wirkt oder stärkere Nebenwirkungen hat, als das vorhergehende. Doch ohne Kenntnis der Bioäquivalenzdaten, haben wir keinen wirklichen Beweis dafür, um pharmazeutische Bedenken geltend zu machen und den Wechsel des Arzneimittels zu verweigern. Der Leidtragende ist der Patient.
Bei bekannt hochproblematischen Arzneistoffen, wie den Schilddrüsenhormonen, hat die Politik bereits reagiert und den Austausch gesetzlich verboten. Warum sie einfach nicht einsehen will, dass es sich um ein generelles Problem handelt, erschließt sich mir nicht.
Ich bin der Meinung, die Politik sollte endlich ihre Hausaufgaben machen und sich andere Einsparmodelle überlegen. Mit Qualität hat das, was hier zur Zeit im Arzneimittelsektor passiert, für mich definitiv nichts mehr zu tun.
Alles Liebe und bleibt sportgesund!
Euer Andreas Binninger