Pink Viagra – Plötzlich ausreichend Nutzen dank Statistiktricks?
Mit großer Verwunderung las ich vorige Tage wieder einmal über ein Arzneimittel, das äußerst fragwürdig ist und jetzt dennoch in den Markt kommen soll.
Als „Pink Viagra“ hat es schon im Vorfeld Bekanntheit erlangt. Auch Lustpille für die Frau wird es genannt. Seine korrekte chemische Bezeichnung lautet Flibanserin.
Die bisherige Berichterstattung der letzten Tage in der deutschen Medienlandschaft, war durchweg kritisch. Gott sei dank, kann ich da nur sagen.
Der deutsche Pharmakonzern Boehringer entdeckte den Wirkstoff auf der Suche nach neuen Antidepressiva. Ein nicht einfaches Forschungsfeld. Denn im Markt existieren bereits zahlreiche Produkte und echte Innovationen zu finden, ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Als sich seinerzeit im Laufe der Studien mit Flibanserin herausstellte, dass Frauen vereinzelt mit gesteigerter sexueller Lust auf das Medikament reagierten, war es aus wirtschaftlicher Sicht sicher ein findiger Gedanke, in diese Richtung weiter zu forschen. Welches Milliardenpotential ein solches, völlig neues Lifestyle-Medikament haben könnte, kann sich jeder selber ausmalen.
Boehringer scheiterte aber mit seinem Zulassungsantrag bei der amerikanischen FDA im Jahre 2010, die damals schon erkannte, dass der Nutzen viel zu gering sei, bei gleichzeitig ausgeprägten Risiken. Übrigens sind ausgeprägte Nebenwirkungen generell ein großes Problem bei Antidepressiva, die bei aktuell im Handel befindlichen Präparaten nur zu rechtfertigen sind, sofern sie den Patienten tatsächlich effektiv helfen und wenn alle nichtmedikamentösen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind..
2012 wurden die Rechte an Flibanserin von Boehringer an die Eigentümer des amerikanischen Konzerns Sprout verkauft, die mit einem neuerlichen Zulassungsantrag kurze Zeit später bei der FDA ebenfalls scheiterten.
Was auch immer die FDA nun bewogen hat, sich anders zu entscheiden, nachvollziehen kann ich es nicht. Zwar macht die amerikanische Behörde einige Auflagen im Rahmen der Zulassung wegen der bekannten Risiken, aber am Nutzen-/Risiko-Verhältnis, hat sich weiterhin nichts grundlegend verbessert. Außer, dass jetzt wie durch ein Wunder auf einmal eine Studie nachgereicht werden konnte, die eine Überlegenheit des Präparates gegenüber Placebo (1) belegt. Ehrlicherweise wird zwar eingeräumt, dass die Überlegenheit gering sei, aber immerhin sei sie statistisch signifikant. (1) (Placebo=Arzneimittel ohne Wirkstoffgehalt. Werden in Studien zu Kontrollzwecken eingesetzt)
Mit kaum einem anderen Begriff wird in wissenschaftlichen Studien mehr Schindluder getrieben, als mit der statistischen Signifikanz. Diese sagt nämlich ersteinmal gar nichts darüber aus, wie effektiv ein Arzneimittel tatsächlich wirkt. Sie dient dem Forscher einzig und allein dazu abzuschätzen, ob sein Ergebnis auf Zufall beruht oder ob es sich um einen wiederholbaren Effekt handelt und ob es sich lohnt, in die Richtung weiter zu forschen. Zumindest sollte sie das. Denn viele verstehen den Begriff „statistisch signifikant“ inzwischen fälschlicherweise im Sinne von gut wirksam. Ein Umstand der, behaupte ich, mittlerweile nur allzu gerne ausgenutzt wird.
Um Euch einmal zu verdeutlichen, worüber wir hier reden, gebe ich Euch folgendes Beispiel:
Nehmen wir an, wir machen mit jeweils 100 Patienten eine Studie mit einem Erkältungspräparat gegen Placebo. Von den 100 Patienten unter Placebo, erfahren zwei Patienten eine Linderung ihrer Symptome. Mit unserem Erkältungspräparat sind es drei von 100. Jeder versierte Statistiker wäre in der Lage, für uns diese Verbesserung gegenüber Placebo als statistisch signifikant zu berechnen. Bei diesem Begriff glauben dann ja schon viele an eine tolle Wirkung, wie wir eben besprochen haben. Aber wir können es noch besser ausdrücken. Wenn wir nämlich jetzt sagen, in der Studie zeigte sich eine 50prozentige Verbesserung gegenüber Placebo, dann hört sich das doch nach einem richtigen Knaller an, oder? Und das wäre nichteinmal gelogen. Denn es haben ja drei Leute, also 50{5cff393ac6e9d9bcd516bee1cb40dba1a54fcac67484b3672b7852825761de21} mehr als bei Placebo, auf unser Erkältungspräparat angesprochen.
Die bittere Wahrheit an unserer Studie ist, dass 97 Patienten leider keine Wirkung hatten. Das lassen wir aber natürlich erstmal unter den Tisch fallen. Und sollte uns jetzt jemand den zu geringen Nutzen vorwerfen, na dann rechnen wir halt mit großen Zahlen. Laut unserer Studie, können wir mit unserem Medikament einem Patienten mehr helfen, als mit Placebo. Bei tausend Patienten, sind das schon 10. Bei einer Million Patienten tausend, denen wir helfen können. Weltweit kommen wir auf zehntausende, ach was sage ich, hunderttausende Menschen, denen wir zukünftig helfen können.
Zugegeben, ich habe mein Beispiel zwar mit sehr extremen, aber leider nicht völlig absurden Zahlen ausgeführt. Denn es gibt tatsächlich Beispiele von Medikamenten, mit ähnlich geringen Therapieverbesserungen. Was mich dabei immer am meisten aufregt ist die Tatsache, wie mit statistischen Werten die Realität verschleiert wird. Zum Schaden vieler Patienten, die ein Medikament nutzlos einnehmen. In meinem Beispiel müssten 97 Patienten umsonst unser Präparat mit allen damit verbundenen Risiken und Nebenwirkung einnehmen, damit nur einem Patienten mehr geholfen wird, als mit Placebo. Bei Arzneimitteln mit geringen oder schwachen Nebenwirkungen, mag man da locker drüber hinwegsehen. Bei einem Präparat wie dem „Pink Viagra“, bei dem schon jetzt vor der Markteinführung erhebliche unerwünschte Wirkungen bekannt sind, hätte ich mir gewünscht, die FDA wäre standhaft geblieben.
Alles Liebe und bleibt gesund
Euer Andreas Binninger