Hidden Hunger – Moderne Mangelernährung und ihre Ursachen
Man kannte den Hidden Hunger, den verborgenen Hunger, bisher vor allem aus der 3. Welt. Dort wo Menschen in Armut und Dürre Hungersnot leiden, versuchte man sie erst einmal satt zu bekommen. In der Regel mit einfachen, hoch kohlenhydrathaltigen Lebensmitteln aus Mais, Getreide, Soja, Hafer und Hülsenfrüchten. Nachteil dieser Lebensmittel ist, dass sie zu arm an Vitaminen, Spurenelementen und sekundären Pflanzenstoffen sind, um Menschen komplett mit allem zu versorgen, das ein gesunder Organismus benötigt. Sie geben im Akutfall ein ausreichendes Sättigungsgefühl und Energie zum Leben. Der fortwährende Mikronährstoffmangel durch den Verzehr ausschließlich dieser Lebensmittel, führt jedoch über einen längeren Zeitraum zwangsläufig zu bleibenden Gesundheitsstörungen. Bei der UN ist das Problem bekannt, weshalb im Rahmen des „World Food Programme“ mit Vitaminen und Mineralstoffen angereicherte Lebensmittel zum Einsatz kommen. Auch ein Nahrungsergänzungspulver, das aufs Essen gestreut werden kann, gehört zu den verwendeten Produkten sowie mit den Vitaminen A und D angereichertes Öl. (Quelle: https://kontext.wfp.org/die-spezialnahrung-von-wfp-3b6e115bb6fd)
Mangel an Folsäure und Vitamin D
Während also für die UN der Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln und angereicherten Produkten selbstverständlich ist, scheuen sich Ernährungsexperten hierzulande ungebrochen davor, generelle Empfehlungen zum Einsatz entsprechender Produkte auszusprechen. Und das, obwohl für weite Teile der deutschen Bevölkerung zum Beispiel ein Mangel an Folsäure und Vitamin D in der täglichen Versorgung statistisch belegt wurde (Quelle: Nationale Verzehrsstudie II, Jahrgang 2008, Herausgeber Max Rubner-Institut, im Auftrag des Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz).
Hidden Hunger in allen Teilen der Gesellschaft
Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Der Hidden Hunger ist längst in der zivilisierten Welt angekommen. Und zwar nicht nur bei einkommensschwachen Randgruppen, sondern mitten in der Gesellschaft.
Dafür sind gleich mehrere Faktoren verantwortlich. Denn nicht nur unsere Ernährungsgewohnheiten, auch unsere Lebensumstände und unser Freizeitverhalten haben sich stark verändert. Nehmen wir als erstes Beispiel das Vitamin D. Es ist schon erschreckend, dass bei Studien festgestellt wurde, dass ein Vitamin D – Mangel bereits im Kindes- und Jugendalter oft vorkommt. Unser Nachwuchs verbringt immer weniger Zeit im Freien. Und in den wenigen Monaten von April bis September, in denen die UV B – Strahlung in unseren Breitengraden ausreichen würde, um die Vitamin D – Produktion in der Haut anzuregen, tragen viele von uns zum Schutz vor einem Sonnenbrand Cremes mit hohen Lichtschutzfaktoren auf. Die körpereigene Vitamin D – Produktion geht bei Lichtschutzfaktoren von mehr als 30 auf ca. 20{5cff393ac6e9d9bcd516bee1cb40dba1a54fcac67484b3672b7852825761de21} zurück. Bei Sonnenblockern gar gegen Null. Vitamin D hat für einen gesunden Organismus weitaus mehr Bedeutung, als nur zum Calciumstoffwechsel beizutragen. Es spielt eine große Rolle im Immunsystem und soll nach neueren Forschungsergebnissen auch vor verschiedenen Krebserkrankungen und Diabetes schützen.
Vitamin D- Prophylaxe ist nicht neu
Nun muss ich allerdings ehrlich sagen, dass sich Teile der Wissenschaft regelrecht bei dem Thema Vitamin D überschlagen, als hätte man jetzt plötzlich und unerwartet das allheilende Ei des Columbus gefunden, befremdet mich schon ein wenig. War es doch noch vor wenigen Jahrzehnten besonders im Winter üblich, täglich ein Löffelchen Lebertran zu sich zu nehmen. Eine der ganz wenigen natürlichen Quellen, mit denen man ausreichende Mengen des Vitamins oral zu sich nehmen kann, wenn die Sonne fehlt. Salopp gesagt, unsere Vorfahren haben es instinktiv richtig gemacht und die Defizite mit dieser Nahrungsergänzung perfekt ausgeglichen. Wir haben nur irgendwann damit aufgehört. Aus ethischen und geschmacklichen Gründen. Aber anstatt Tabletten einzunehmen, haben wir die Einnahme von Vitamin D lange Zeit gleich ganz sein gelassen. Bis uns die Wissenschaft nun wieder daran erinnert hat.
Empfindliche Folsäure
Der bereits erwähnte, weit verbreitete Mangel an Folsäure, ist ein weiteres gutes Beispiel dafür, wie sich unsere veränderten Essgewohnheiten und unsere modernen Herstellungs- und Gewinnungsmethoden ungünstig auf die Mikronährstoffversorgung auswirken. Folsäure ist sehr licht-, luft- und temperaturempfindlich. Lange Transportwege und Lagerzeiten, wie sie heute oft üblich sind, sind Gift für dieses Vitamin. Zu langes, zu intensives Erhitzen oder das Warmhalten in Kantinen und Gaststätten ebenso. Und darüber hinaus essen wir viel zu wenige Lebensmittel, in denen sie enthalten ist. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten die Verwendung zahlreicher traditioneller Lebensmittel und Zutaten eingestellt oder stark eingeschränkt. Nicht nur den Lebertran. Immer seltener kommen beispielsweise frische Kräuter zuhause in der Küche zum Einsatz, wenn überhaupt noch frisch gekocht wird. Insgesamt werden viel zu wenig Obst und Gemüse verzehrt. Was inzwischen durchaus auch eine Kostenfrage geworden ist. Denn hochwertiges Obst und Gemüse sind teuer geworden. Stattdessen haben wir einen hohen Anteil industriell verarbeiteter „leerer“ Nahrungsmittel und Fertiggerichte in unserer täglichen Ernährung, der erheblich zur Entwicklung des Hidden Hungers beiträgt. Denn im Gegensatz zu den Nahrungsmitteln des World Food Programme, sind unsere Fertiggerichte nicht standardmäßig mit Mikronährstoffen angereichert. Müssen sie auch nicht. Eine gesetzliche Regelung hierfür gibt es nicht. Vitamine kommen deshalb vornehmlich dort hinein, wo es sich schick verkaufen lässt, weil das Produkt „Vital“, „Fit“ oder „Aktiv“ heißt. Oder, wie im Falle der Vitamine C und E, wenn ihr Zusatz für die Haltbarkeit von Vorteil ist. Ferner sind Kräuter, Gemüse Pilze und andere Zutaten mit hohem Vitalstoffgehalt aus Kostengründen in Fertigmahlzeiten nicht in großer Menge enthalten und werden durch Aromen ersetzt.
Veganismus und andere Mangelrisiken
Nun sind das nicht alles wirklich Neuigkeiten und seit einigen Jahren gibt es einen steigenden Trend hin zu neuen Ernährungskonzepten. Vegetarismus, Veganismus, Paläodiät, um nur drei Beispiele zu nennen, begeistern immer mehr Menschen. Und das nicht allein aus ideologischen Gründen. Vielmehr versprechen sich die meisten davon ein vitaleres und gesünderes Leben. Doch jede Ernährung ist nur so gut, wie sie wirklich ausreichend alle benötigten Vitalstoffe liefert. Einseitigkeit bzw. der bewusste Verzicht auf bestimmte Lebensmittel, birgt in jeder Ernährungsform Risiken für Mangelzustände. Obwohl Vegetarier und Veganer zwangsläufig durchweg besser mit pflanzlichen Vitalstoffen versorgt sind, haben sie z.B. ein erhöhtes Risiko, einen Vitamin B12-Mangel zu erleiden, da die Hauptquelle dieses Vitamins für den Menschen tierische Lebensmittel sind. Auch die Versorgung mit Vitamin D, dessen Hauptquelle fetter Fisch und Fischöle sind, ist für strenge Vegetarier und Veganer ein Problem und nur durch den Einsatz von Supplementen zu lösen. Eisen ist zwar in zahlreichen pflanzlichen Lebensmitteln, wie zum Beispiel Hülsenfrüchten, ausreichend vorhanden, wird jedoch im Verdauungstrakt schlechter aufgenommen, als Eisen aus tierischen Quellen.
Nahrungsergänzung zu Unrecht umstritten
Wenn es im Gespräch um Nahrungsergänzungsmittel geht, höre ich aber immer wieder: „Brauche ich nicht. Ich ernähre mich gesund. Ich ernähre mich abwechslunsgreich.“ Ich möchte mit diesem Artikel weder irgendwelche Ernährungsformen belobigen oder schlecht machen, noch möchte ich mich besonders vehement für Nahrungsergänzungsmittel einsetzen. Vielmehr möchte ich dafür sensibilisieren, dass oft auch vermeintlich gesundes Essverhalten möglicherweise nicht unproblematisch ist und Nahrungsergänzungsmittel eine gute und sinnvolle Sache sind, um gezielt Defizite auszugleichen. Wer sie pauschal ablehnt und verunglimpft, erweist unserer Gesundheit meiner Meinung nach einen Bärendienst. Umgekehrt macht es ebenso wenig Sinn, den täglichen Speiseplan nur noch aus Pillen, Kapseln und Pülverchen bestehen zu lassen. Basis eines gesunden Lebens ist und bleibt die Versorgung mit gutem Essen.
In diesem Sinne, kocht mal wieder was Leckeres selber und bleibt sportgesund!
Euer Apotheker Andreas Binninger
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